Memorandum: Politik für die deutsche Sprache

(3. April 2001)

Die folgende sprachpolitische Denkschrift des IDS-Direktors ist vor dem Hintergrund thematisch verwandter Empfehlungen entstanden, die in letzter Zeit von verschiedenen Organisationen (u.a. Germanistenverband, Gesellschaft für deutsche Sprache, "Bad Homburger Empfehlungen", "Mannheimer Empfehlungen") veröffentlicht worden sind. Das Memorandum wurde auch verschiedenen Bundes- und Landesministerien übermittelt.

Der Rückgang der Germanistik und des Deutschunterrichts im nichtdeutschsprachigen Ausland ist unter anderem bedingt durch die zunehmende internationale Verflechtung wirtschaftlicher Prozesse und politischer Beziehungen, die schon aus ökonomischen Gründen zu sprachlicher Vereinfachung und Vereinheitlichung drängt, und zwar durchweg zu einer "globalisierten" Varietät des Englischen. Dies schwächt wichtige kommunikationspraktische Motive, Deutsch zu lernen und sich vielleicht sogar mit deutscher Literatur zu befassen. Betroffen sind von dieser Entwicklung neben dem Deutschen auch andere europäische Sprachen, die ebenfalls eine lange Tradition als Lern- und Studiengegenstände außerhalb ihrer jeweiligen Sprachgebiete haben.

Manche Auslandsgermanisten bringen das abnehmende Interesse an deutscher Sprache und Literatur in ihren Ländern auch in Zusammenhang mit der geringen Bedeutung, die ein Teil der Deutschen ihrer eigenen Sprache zumessen, mit der offenkundigen Bereitschaft vieler Deutscher in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Unterhaltungsindustrie in ihren jeweiligen Domänen die deutsche Sprache zu Gunsten der englischen aufzugeben. Warum soll man die Sprache von Menschen lernen und lehren, von denen viele eben dieser Sprache gegenüber gleichgültig, unsicher, manchmal sogar ablehnend eingestellt sind?

Die derzeitigen Schwierigkeiten der Auslandsgermanistik und des Unterrichts in Deutsch als Fremdsprache gehören zu den vielen Anlässen und Gründen, für die deutsche Sprachpolitik eine klare Orientierung zu gewinnen.

Gegen die wirtschaftliche und politische "Globalisierung" gibt es keine sprachpolitischen Argumente. Erforderlich ist aber eine aktive Auseinandersetzung mit ihren Begleiterscheinungen und absehbaren Folgen für die deutsche und andere europäische Sprachen. Für die deutsche Sprachpolitik und das sprachspezifische Handeln deutscher Institutionen liegt es nahe, die Bemühungen um die eigene Sprache nicht auf das Inland zu beschränken, sondern stets auch in Zusammenhängen mit der internationalen Sprachentwicklung, speziell im (derzeit noch) vielsprachigen Europa zu sehen. Hierzu sollen die folgenden Überlegungen und Empfehlungen anregen.

  1. Die deutsche Sprache ist in Deutschland und den anderen deutschsprachigen Staaten und Regionen das wichtigste Träger- und Gestaltungsmedium von Kultur im weitesten Sinn. Als Standardsprache ermöglicht sie in ihrem Geltungsbereich einen Sprachverkehr maximaler Reichweite und unterstützt die kulturelle Identifikation ihrer Sprecherinnen und Sprecher. Auf ihr und den anderen europäischen Sprachen gründet der kulturelle Reichtum Europas in seiner historischen Tiefe und gegenwärtigen Vielfalt.

  2. Der Fortbestand und die sprachtypische Weiterentwicklung des Deutschen wie auch anderer europäischer Sprachen ist nicht längerfristig gesichert. Die politische und wirtschaftliche Integration Europas in der Europäischen Union wie auch die zunehmende Internationalisierung wirtschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Kommunikation in Verbindung mit einer weltweiten alltags- und trivialkulturellen Vereinheitlichung können dazu führen, dass immer mehr Gebrauchsdomänen der deutschen Sprache (wie auch anderer europäischer Sprachen) zugunsten einer internationalen Varietät des Englischen aufgeben werden. Zur Zeit gilt dies für weite Bereiche der Naturwissenschaften und einzelne Sozialwissenschaften, für Teile der Wirtschaft, einschließlich der Unterhaltungsindustrie, und einzelne Bereiche der Politik. Langfristig kann dies zu einer Reduzierung der Domänen des Deutschen auf private Lebensbereiche und Folklorenischen führen.

  3. Falls man die weitere Sprachentwicklung nicht in wirtschaftsliberaler Gelassenheit ausschließlich den ökonomischen und kommunikationsökonomischen Bedürfnissen des Markts überlassen will, ist gegenzusteuern. Nicht etwa durch ein Sprachschutzgesetz, wie es neuerdings wieder einmal gefordert wird, sondern durch bessere Spracherziehung, einschließlich des Fremdsprachenunterrichts, intensive Sprachforschung und vielfältige und fantasievolle, auch über die Medien vermittelte Sprachkritik und Sprachberatung.

  4. Ziel des schulischen Deutschunterrichts im Inland ist eine mündliche und schriftliche Kompetenz, die zur vollen Beteiligung am gesellschaftlichen Leben befähigt. Deshalb muss Deutsch, besonders die Standardsprache, in allen Schularten und auf allen Klassenstufen als Hauptfach unterrichtet werden.

  5. Zur Erhaltung der europäischen Sprachenvielfalt wie mittelbar zum Verständnis der eigenen Sprache trägt auch der Fremdsprachenunterricht bei. Dieser soll in der Grundschule einsetzen. Ziel ist die mündliche und schriftliche Handlungsfähigkeit möglichst vieler Deutscher in zwei europäischen Fremdsprachen sowie Lesekompetenz und Hörverständnis in weiteren Sprachen. Eine der Fremdsprachen sollte Englisch sein, möglichst aber nicht die erste. Generell sollten Nachbarschaftssprachen im schulischen Sprachenangebot Vorrang haben.

  6. Migranten werden unterstützt, Deutsch als Zweitsprache zu erlernen. Hierzu erhalten Kinder und Erwachsene ein ihnen angemessenes Unterrichtsangebot. Das Recht der Migranten auf ihre Erstsprache bleibt unberührt.

  7. Deutsche Wissenschaftler sollen zu einer entwickelten Zwei- oder Mehrsprachigkeit angehalten werden. Das heißt, sie sollen schon im Interesse der internationalen Fachkommunikation weiterhin ungehindert auf Englisch publizieren. Sie sollen daneben aber auch deutsch schreiben und vortragen, um Deutsch als Fachsprache weiterzuentwickeln und sich hin und wieder auch ihren wissenschaftlich interessierten deutschsprachigen Mitbürgern verständlich zu machen.

  8. Deutsche Mittlerorganisationen für den wissenschaftlichen Austausch sollten nicht in Überschätzung von Englisch als uneingeschränkt gültiger und verfügbarer wissenschaftlicher Globalsprache bei ausländischen Stipendiaten auf schon vorhandene bzw. im Inland zu vermittelnde Deutschkenntnisse verzichten. Hier sind fachspezifische und individuelle Differenzierungen erforderlich.

  9. Institutionen, die wie das Goethe-Institut mit der Vermittlung von deutscher Sprache und Kultur im Ausland befasst sind, aber auch der DAAD mit seinen Förderprogrammen für die Germanistik, sollten dem politischen Bestreben entgegenwirken, die Sprach- und Kulturvermittlung in Europa zugunsten der in anderen Kontinenten zu reduzieren. Sprachliche Begegnung und kultureller Austausch in Europa sind keine "Selbstläufer", sondern angesichts der bis heute wirkenden nationalstaatlichen Orientierung der EU-Staaten eine besonders wichtige Aufgabe. Der Rückgang der Germanistik gerade in europäischen Ländern ist ein alarmierendes Symptom. Mit entsprechenden Organisationen anderer europäischer Staaten sollte eine noch engere Zusammenarbeit gesucht werden, auch mit dem Ziel, die derzeitige Ausdünnung der wechselseitigen Sprach- und Kulturvermittlung in Europa wieder rückgängig zu machen.

  10. Deutsche Politiker, Diplomaten und Beamte sollen der Tendenz zur arbeitspraktischen Einsprachigkeit bei den europäischen Behörden und den Organen der Europäischen Union entgegenwirken, dies im Interesse der sprecherstärksten Sprache der EU, mittelbar aber auch der anderen Sprachen der Union.

  11. Um den administrativ und institutionell verstreuten Interessen und Zuständigkeiten für die deutsche Sprache ein Forum zu geben und auch Vertreter der Medien und der Wirtschaft an der sprachpolitischen Meinungsbildung zu beteiligen, sollte ein ständiger Rat für die deutsche Sprache (vielleicht als "Deutscher Sprachrat") gebildet werden. Dieser Sprachrat sollte nicht in Konkurrenz, sondern in enger Verbindung mit schon bestehenden zentralen Einrichtungen für die Erforschung und Pflege der deutsche Sprache (IDS, GfdS) wie auch mit wissenschaftlichen Fachverbänden und Mittlerorganisationen eingerichtet werden. Organisatorische und praktische Anregungen für eine solche Einrichtung sollten weniger bei den traditionellen Sprachakademien etwa in Frankreich oder Spanien als bei den staatlich beauftragten Sprachinstitutionen in Skandinavien und den Niederlanden gesucht werden.

Prof. Dr. Gerhard Stickel
Institut für Deutsche Sprache
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