Wortschatz im Fluss – Von „Helikoptereltern“, „Hirsemond“ und „alabasterweiß“

53. Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim

zum Thema „Wortschätze: Dynamik, Muster, Komplexität“ 14. - 16. März 2017, Congress Center Rosengarten Mannheim Unser traditionelles Bild vom Wortschatz sieht so aus: Der Wortschatz ist eine Sammlung von Wörtern und Redewendungen mit ihren Bedeutungen; manchmal verschwinden Wörter aus dieser Sammlung, ab und zu kommen neue hinzu, entweder aus dem Englischen (z. B. „fracken“, „Darknet“ oder „whatsappen“) oder indem sie im Deutschen neu gebildet werden (z. B. „Inklusionsklasse“, „Flexirente“ oder „Helikoptereltern“). Neue Forschungsperspektiven auf den Wortschatz legen allerdings nahe, dass dieses Bild viel zu statisch und vereinfachend ist. Die diesjährige Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, die vom 14. - 16. März 2017 im Congress Center Rosengarten in Mannheim stattfindet, zeigt unter dem Titel „Wortschätze: Dynamik, Muster, Komplexität“, warum das so ist: Zunächst einmal ist der deutsche Wortschatz viel größer, als der Benutzer eines Standardwörterbuchs vermuten möchte. In einem großen Wörterbuch des Deutschen finden sich gut 200.000 Einträge – in den größten sprachwissenschaftlich auswertbaren elektronischen Textsammlungen tummeln sich dagegen fast hundertmal so viele verschiedene Wörter. So lässt sich etwa aus diesen Textsammlungen mühelos eine vierstellige Anzahl von Wörtern zur Charakterisierung von „Monden“ verschiedenster Art herausfiltern. Die meisten davon existieren in kleinen semantischen Nischen wie der „Hirsemond“ als Bezeichnung für ein mit Hirsespelzen gefülltes, halbmondförmiges Nackenkissen, oder sie fristen ihr Dasein als Eintagsfliegen, wie der „Pergamentmond“, der „Musikdosenmond“ oder der „Honigmelonenmond“. So ist der Wortschatzbestand denn auch in konstantem, täglichem Wandel begriffen. Berechnen kann man dabei unter anderem, wie groß bei lexikalischen Einheiten die Bereitschaft ist, zu neuen Wörtern beizutragen. Dabei zeigt sich zum Beispiel, dass „schwarz“ von „abgrundschwarz“ bis „zylinderschwarz“ uns in viel stärkerem Maße zu Bildungen animiert als „weiß“, das zwischen „alabasterweiß“ und „zwiebelweiß“ weit weniger anzubieten hat. Auch Bedeutungen sind flexibler und gebrauchsabhängiger als man gemeinhin denkt. Wir wissen alle, dass „mit etwas anfangen“ bedeutet, dass man eine Handlung beginnt. Dennoch können wir fragen „Hast Du schon mit dem neuen Buch angefangen?“, obwohl „Buch“ gar keine Handlung bezeichnet. Wir verstehen den Satz dann so: „Hast Du schon damit angefangen, das neue Buch zu lesen?“ oder – unter Schriftstellern – „Hast Du schon damit angefangen, das neue Buch zu schreiben?“ oder gegebenenfalls – um der Kreativität der Sprache Genüge zu tun – in einer Fabel über Bücherwürmer auch: „Hast Du schon damit angefangen, das neue Buch zu fressen?“ Eine solche Flexibilität lässt sich mit traditionellen statischen Auffassungen von Wortbedeutungen kaum erklären. Weit weniger fest als früher angenommen sind trotz ihres Namens auch die festen Wortverbindungen des Wortschatzes. So genügt es dem kreativen Sprachverwender nicht mehr „dein Wort in Gottes Ohr“ zu wünschen, es darf auch schon mal „des Wettergottes Ohr“ sein oder „des Trainers Ohr“ oder eine von mehreren Dutzend weiteren Varianten. Scheinbar haben wir es im Wortschatz oft mit halbabstrakten Mustern zu tun wie „Dein Wort in X Ohr“ mit „Gott“ als bevorzugter, aber keineswegs notwendiger Füllung für X. An der Grenze zwischen Lexikon und Grammatik finden sich dann auch Muster wie „jemand VERB-t nach etwas“ mit dem wir ausdrücken, dass wir etwas finden oder erlangen wollen. Typischerweise treten hier Verben des Suchens auf („sie sucht nach Gold /fahndet nach Verbrechern“), aber das Muster hat sich auf viele andere Verbklassen ausgedehnt wie etwa Kommunikationsverben („sie schreit nach Bier“) oder Bewegungsverben („sie taucht nach einem Schatz“). Und auch hier drängt der kreative Sprachverwender neue Wörter sofort in bekannte Muster, etwa wenn „wir nach etwas googeln“. Der Wortschatz ist also dynamisch in ständigem Wandel begriffen, er ist viel komplexer als wir früher dachten, und stellt uns Muster zur Verfügung, die zu immer neuen Wörtern und Wortverwendungen anregen. Und so tut man gut daran, sich den Wortschatz nicht wie eine große Wortsammlung vorzustellen, sondern eher wie einen Prozess, in dem alles im Fluss ist. Und so wie man – nach Heraklit – nie zweimal in den gleichen Fluss steigt, bedient man sich auch nie zweimal im gleichen Wortschatz, denn während Sie diesen Artikel gelesen haben, sind schon wieder neue Wörter im deutschen Wortschatz aufgetreten, haben sich Wortbedeutungen verändert und Wörter sind in Kontexten aufgetreten, die Sie kaum für möglich gehalten haben. Das vollständige Tagungsprogramm findet sich unter: http://www.ids-mannheim.de/org/tagungen/tagung2017/programm Zu der Tagung werden wieder über 450 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus rund 25 Ländern erwartet. Diese Pressemitteilung im PDF-Format. Das Institut für Deutsche Sprache (IDS) ist die zentrale außeruniversitäre Einrichtung zur Erforschung und Dokumentation der deutschen Sprache in ihrem gegenwärtigen Gebrauch und in ihrer neueren Geschichte. Es gehört zu den 91 Forschungs- und Serviceeinrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft. Näheres unter: <www.ids-mannheim.de>, <www.facebook.com/ids.mannheim> und <www.leibniz-gemeinschaft.de>. Presse-Kontakt: Dr. Annette Trabold
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